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 Euthanasie - Sterbehilfe zwischen Befruchtung und Sterben  

 

 

Peter Singer : Praktische Ethik

Neuausgabe, Reclam 1994

 

In jeder uns bekannten Gesellschaft hat es Tötungsverbote gegeben. Vermutlich kann keine Gesellschaft überleben, wenn sie ihren Mitgliedern erlaubt, einander uneingeschränkt zu töten. In der Frage allerdings, wer solchen Schutz genießt, unterscheiden sich die Gesellschaften (S 117).

 

Heute sind sich die meisten Menschen, wenn nicht in der Praxis, so doch in der Theorie, einig, dass es, abgesehen von besonderen Situationen wie Notwehr, Krieg, möglicherweise Todesstrafe und einigen wenigen weiteren Zweifelsfällen, falsch ist, menschliche Wesen zu töten, ungeachtet ihrer Rasse, Religion, Klasse oder Nationalität (S 117).

 

Es gibt zwei Bedeutungen von ‚menschliches Wesen‘. Die rein biologische Zugehörigkeit zur Spezies „Homo sapiens“. Die andere Bedeutung legt mehr Wehr auf die Ausbildung einer menschlichen Person mit Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Sinn für Vergangenheit und Zukunft, die Fähigkeit, mit anderen Kontakte zu knüpfen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier (S 118).

Ich schlage vor ‚Person‘ in der Bedeutung eines rationalen und selbstbewussten Wesens zu gebrauchen, um jene Elemente der landläufigen Bedeutung von „menschlichen Wesen“ zu erfassen, die von „Mitglied der Spezies Homo sapiens“ nicht abgedeckt werden (S 120).

 

Der Wert des Lebens von Mitgliedern der Spezies Homo sapiens. Dass es unrecht ist, einem Wesen Schmerz zuzufügen, kann nicht von seiner Gattungszugehörigkeit abhängen; ebensowenig, dass es unrecht ist, es zu töten. Die biologischen Fakten, an die unsere Spezies gebunden ist, haben keine moralische Bedeutung. Dem Leben eines Wesens bloß deshalb den Vorzug zu geben, weil das Lebewesen unserer Spezies angehört, würde uns in dieselbe Position bringen wie die Rassisten, die denen den Vorzug geben, die zu ihrer Rasse gehören (S 121).

 

Der Wert des Lebens einer Person (S 123). Hat das Leben eines rationalen und selbstbewussten Wesens einen besonderen, vom Leben bloß empfindungsfähiger Wesen verschiedenen Wert? Um diese Frage zu bejahen, kann man folgendermaßen argumentieren. Ein selbstbewusstes Wesen ist sich seiner selbst als einer distinkten Entität bewusst, mit einer Vergangenheit und einer Zukunft. Ein Wesen, das sich in dieser Weise seiner selbst bewusst ist, ist fähig, Wünsche hinsichtlich seiner Zukunft zu haben. Nimmt man einem dieser Wesen ohne seine Zustimmung das Leben, so durchkreuzt man damit seine Wünsche für die Zukunft. Tötet man eine Schnecke oder einen 24 Stunden alten Säugling, so vereitelt man keine Wünsche dieser Art, weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben (5 123).

 

Es lohnt sich zu fragen, ob es Gründe gibt, Personen im Unterschied zu anderen Lebewesen ein Recht auf Leben zuzuschreiben (S 130). Die Rücksichtnahme des klassischen Utilitarismus, was die Wirkung des Tötens auf andere betrifft; die Rücksichtnahme des Präferenz-Utilitarismus auf die Wünsche und Zukunftspläne des Opfers; das Argument, Wünsche hinsichtlich der Zukunft haben zu können, als notwendige Bedingung für ein Recht auf Leben; und die Respektierung der Autonomie (S 135f).

 

Sollen wir bewusstes Leben als einen Wert achten? Der offensichtlichste Grund dafür, das Leben eines Wesens, das Lust und Schmerz empfinden kann, als einen Wert zu achten, ist die Lust, die es empfinden kann (S 137).

 

Vergleich des Werts verschiedenen Lebens. Wenn wir auf die Frage, ob das Leben eines bewussten, aber nicht selbstbewussten Wesens irgendeinen Wert hat, eine – wenn auch nicht ganz unumwundene – bejahende Antwort geben können, lässt sich dann auch der Wert verschiedener Lebewesen auf verschiedenen Stufen des Bewusstseins und Selbstbewusstseins vergleichen ? Das Hauptproblem besteht aber darin, ob wir die Vorstellung einer Wertordnung verschiedener Leben überhaupt akzeptieren können (S 141f). Im Allgemeinen dürfte gelten: Je höher entwickelt das bewusste Leben eines Wesens, je grösser der Grad von Selbstbewusstsein und Rationalität und je umfassender der Bereich möglicher Erfahrungen, um so mehr würde man diese Art des Lebens vorziehen (S 144).

 

 Ich legte dar, dass, wenn menschliches Leben einen speziellen Wert oder einen besonderen Anspruch auf Schutz hat, es ihn insofern hat, als die meisten menschlichen Wesen Personen sind. Falls aber einige nichtmenschliche Tiere ebenfalls Personen sind, dann muss ihr Leben denselben Wert und Schutzanspruch haben. Ob wir den speziellen Wert des Lebens menschlicher Personen auf den Präferenz-Utilitarismus gründen oder auf das Recht auf Leben, das abgeleitet ist aus ihrer Fähigkeit, ein Weiterleben zu wünschen, oder auf die Respektierung der Autonomie – diese Argumente müssen ebenso für nichtmenschliche Personen gelten…. Daher sollten wir die Lehre, die das Leben von Angehörigen unserer Gattung über das Leben der Angehörigen anderer Gattungen erhebt, ablehnen. Manche Angehörige anderer Gattungen sind Personen: manche Angehörige unserer Spezies sind es nicht. Keine objektive Beurteilung kann den Standpunkt unterstützen, dass es immer schlimmer ist, Mitglieder unserer eigenen Spezies, die keine Personen sind, zu töten, als Mitglieder anderer Spezies, die es sind. Im Gegenteil gibt es starke Gründe dafür, der Überzeugung zu sein, dass es an sich schwerwiegender ist, Personen das Leben zu nehmen als Nichtpersonen. So scheint es, dass etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines menschlichen Wesens, welches aufgrund einer angeborenen geistigen Behinderung keine Person ist und nie sein kann (S 155f)…..Es ist offensichtlich schwierig festzustellen, wann ein anderes Wesen selbstbewusst ist. Aber angenommen, es ist falsch eine Person zu töten, wenn wir es vermeiden können, und es besteht echter Zweifel, ob ein Wesen, das man zu töten gedenkt, eine Person ist, so sollten wir den Zweifel zugunsten dieses Lebewesens sprechen lassen (S 158).

 

Wir tun offensichtlich etwas Schlechtes, wenn wir wissentlich ein unglückliches Wesen in die Welt setzen; und wenn das so ist, dann ist es schwierig zu erklären, weshalb wir nicht etwas Gutes tun, wenn wir wissentlich ein glückliches Wesen in die Welt setzen (S 162).

 

Einige nichtmenschliche Tiere scheinen vernunftbegabt und selbstbewusst zu sein und begreifen sich selbst als distinkte Wesen mit einer Vergangenheit und Zukunft. Wenn das so ist oder nach unserem besten Wissen so sein kann, dann ist in diesem Fall das Argument gegen das Töten so stark wie das Argument gegen die Tötung von Menschen mit einer dauerhaften geistigen Behinderung auf gleichem geistigen Niveau (S 173)

 

Das bedeutet, dass es unter gewissen Umständen – wenn Tiere ein lustvolles Leben haben, schmerzlos getötet werden, ihr Tod keine Leiden für andere Tiere bedeutet und das Töten des einen Tieres dessen Ersetzung durch ein anderes ermöglicht, das sonst nicht leben würde – kein Unrecht sein mag, nicht-selbstbewusste Tiere zu töten (S 174)….So gibt es wohl durchaus Situationen, in denen es nicht falsch ist, Tiere zu töten, aber sie sind sehr speziell und betreffen nur ganz wenige von den Milliarden Fällen, in denen Menschen Jahr für Jahr Tieren den vorzeitigen Tod bringen (S 175)... Um die richtige Einstellung zur Berücksichtigung von Tieren zu fördern, auch der nicht-selbstbewussten, wäre es am besten, den einfachen Grundsatz zu beachten: Tiere nicht zu Nahrungszwecken zu töten (S 176).

 

Leben nehmen: Der Embryo und der Fötus

 

Eine klare Trennlinie zwischen dem befruchteten Ei und dem Erwachsenen gibt es nicht; daher rührt das Problem (S 179).

 

Was den Schwangerschaftsabbruch anlangt, so ist in der bisherigen Diskussion deutlich geworden, dass die Suche der Liberalen nach einer moralisch entscheidenden Trennlinie zwischen dem Neugeborenen und dem Fötus kein Ereignis oder Entwicklungsstadium erbracht hat, das solche mit Lebensrecht von anderen ohne Lebensrecht eindeutig scheiden könnte. Die konservativen bewegen sich dagegen auf festem Boden, wenn sie betonen, dass die Entwicklung vom Embryo zum Säugling ein stufenweiser Prozess ist (S 186).

 

Der Wert des fötalen Lebens. Das Hauptargument gegen die Abtreibung, lautete folgendermaßen:

1.      Prämisse: Es ist Unrecht, ein unschuldiges menschliches Wesen zu töten

2.      Prämisse: Ein menschlicher Fötus ist ein unschuldiges menschliches Wesen

Schlussfolgerung: Daher ist es unrecht, einen menschlichen Föten zu töten (S 195).

 

Die Auffassung, die bloße Zugehörigkeit zu unserer Spezies, ungeachtet aller anderen Eigenschaften, sei von entscheidender Bedeutung für die Unrechtmäßigkeit des Tötens, ist ein Erbe religiöser Lehren, die selbst die Gegner der Abtreibung nur mehr zögernd ins Gespräch bringen…Wir können den Fötus nun als das betrachten, was er ist – die wirklichen Eigenschaften, die er besitzt – und können sein Leben nach demselben Maßstab bewerten wie das Leben von Wesen, die ähnliche Eigenschaften haben, aber nicht unserer Spezies gehören (S 196)….Ich schlage daher vor, dem Leben eines Fötus keinen größeren Wert zuzubilligen als dem Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einer ähnlichen Stufe der Rationalität, des Selbstbewusstseins, der Bewusstheit, der Empfindungsfähigkeit usw. Da kein Fötus eine Person ist, hat kein Fötus denselben Anspruch auf Leben wie eine Person. Wir müssen natürlich untersuchen, wann der Fötus voraussichtlich in der Lage sein wird, Schmerz zu empfinden…Danach jedoch, wenn der Fötus Bewusstsein (wenn auch kein Selbstbewusstsein) hat, sollte Abtreibung nicht leicht genommen werden (falls eine Frau jemals einen Schwangerschaftsabbruch leichtnimmt). Aber die ernsthaften Interessen der Frau würden normalerweise jederzeit vor den rudimentären Interessen selbst eines bewussten Fötus Vorrang haben. Ja, selbst ein Schwangerschaftsabbruch aus den trivialsten Gründen ist schwerlich zu verurteilen, wenn wir nicht gleichzeitig das Abschlachten viel weiter entwickelter Lebensformen, nur weil uns deren Fleisch schmeckt, verurteilen (S 197).

 

Die Bedeutung eines humanen Tötens ist weithin anerkannt; im Falle der Abtreibung kümmert man sich seltsamerweise nur wenig darum (S 198).

 

Der Fötus als potentielles Leben. Seine Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens wird dann wichtig, wenn wir ihn als potentielles reifes menschliches Wesen betrachten, und dann übertrifft der Fötus jedes Huhn, Schwein oder Kalb bei weitem (S 198f)….. Aber daraus folgt nicht, dass der Fötus einen größeren Anspruch auf Leben hat. Es gibt keine Regel, die besagt, dass ein potentielles X denselben Wert oder alle Rechte von X hat.

Der Status des Labor-Embryos. Wir haben bereits gesehen, dass Rechtsansprüche auf Leben nicht auf Spezieszugehörigkeit gegründet werden sollten….Aber da ist noch ein weiterer wichtiger Punkt: Menschliche Wesen sind Individuen, aber der Embryo im Frühstadium ist durchaus kein Individuum. Bis zu vierzehn Tage nach der Befruchtung – und das ist länger als menschliche Embryonen bisher außerhalb des Körpers am Leben erhalten wurden – kann sich der Embryo jederzeit in zwei oder mehr genetisch identische Embryonen aufspalten (S 203f)… Solange also die Möglichkeit zu Zwillingen besteht, ist die Behauptung, der Embryo sei in einem moralisch relevanten Sin ein menschliches Wesen, noch schwieriger aufrechtzuerhalten als jene, dass der Fötus in einem moralisch relevanten Sinn ein menschliches Wesen sei.

Die Verwendung von Föten. Haben Föten Rechte oder Interessen, die verletzt oder beeinträchtigt werden können, wenn man sie zu therapeutischen Zwecken verwendet? Ich habe schon ausgeführt, dass der Fötus kein Recht auf, genaugenommen nicht einmal ein Interesse am Leben hat. Im Fall der Tiere haben wir allerdings gesehen, dass die Behauptung, ein Wesen habe kein Recht auf Leben, nicht bedeutet, dass es überhaupt keine Rechte und Interessen hat. Wenn der Fötus Schmerz zu empfinden mag, dann ist er daran interessiert, keinen Schmerz zu leiden, und dieses Interesse sollte genauso berücksichtigt werden wie die ähnlichen Interessen jedes anderen Wesens…. Dies führt uns zurück zu einer eingehenden Untersuchung des bereits weiter oben erörterten Problems: Wann erlangt der Fötus Bewusstsein? (S 212f)….. Im Zweifelsfall wäre es vernünftig, den frühestmöglichen Zeitpunkt der Empfindungsfähigkeit als die Grenze anzusehen, jenseits derer der Fötus Schutz genießen sollte …. und als definitive zeitliche Trennlinie die physische Fähigkeit des Gehirns wählen, die für das Bewusstsein notwendigen Signale zu empfangen: also etwa ab der 18. Schwangerschaftswoche (S 213)…. Nach dieser Zeit freilich muss der Fötus vor Schaden geschützt werden, und zwar aus demselben Grund, der für empfindungsfähige, nicht-selbstbewusste, nicht-menschliche Lebewesen gilt (S 214).

 

Ein Schwangerschaftsabbruch ist an sich moralisch neutral, sofern er vor der 18. Woche durchgeführt wird. Selbst zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen und mit Schmerz verbunden, könnten Schwangerschaftsabbrüche gerechtfertigt werden, wenn sich dadurch größeres Leiden verhindern ließe, etwa indem das Leben eines Kindes gerettet werden könnte oder bei einer älteren Person die Parkinsonsche oder Alzheimersche Krankheit erfolgreich behandelt werden könnte (S 215).

 

Es ist nämlich weder ungewöhnlich noch unvernünftig, wenn ein Elternteil für ein Kind große Opfer bringt. Wir lassen es ohne weiteres zu, dass sowohl Männer als auch Frauen stundenlang stupide Fabrikarbeit verrichten, um ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Das lässt vermuten, dass Opfer für einen Verwandten oder geliebten Menschen zu bringen nicht an sich unrecht oder zu verbieten ist. In vielen Ländern wird außerdem zugelassen, dass Frauen aus viel unwichtigeren Gründen als dem der Lebensrettung eine Schwangerschaft abbrechen. So gesehen, können wir eine Frau kaum kritisieren, wenn sie sich entschließt, ihre Schwangerschaft abzubrechen, um fötales Gewebe für ihr todkrankes Kind zu liefern (S 216

…..Wahrscheinlich ist es aus verschiedenen Gründen besser, dass es einige Dinge gibt, die man nicht kaufen kann; einige Umstände, in denen wir den Altruismus derer angewiesen sind, die wir lieben, oder auch derer, die in unserer Gesellschaft Fremde sind (S 218).

 

Schwangerschaftsabbruch und Infantizid. Die gängige liberale Position muss eine moralisch relevante Unterscheidung zwischen einem Embryo und einem neugeborenen Baby vorlegen, weil die Liberalen üblicherweise annehmen, dass es erlaubt ist, einen Embryo oder einen Fötus, nicht aber einen Säugling zu töten. Ich habe den Standpunkt vertreten, dass das Leben eines Fötus (und natürlich erst recht das eines Embryos) nicht mehr wert ist als das Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einem ähnlichen Stand der Rationalität, des Selbstbewusstseins, der Bewusstheit, der Fähigkeit zu fühlen usw. und dass, weil ein Fötus keine Person ist, ein Fötus nicht denselben Anspruch auf Leben hat wie eine Person. Nun muss man zugeben, dass sich diese Argumentation ebensowohl auf Neugeborene wie auf Föten anwenden lassen (S 219)…..Wenn das Recht auf Leben auf die Fähigkeit, weiterleben zu wollen, oder auf das Vermögen, sich als kontinuierliches mentales Subjekt zu betrachten, gegründet werden muss, dann kann ein Neugeborenes aus eben diesem Grund kein Recht auf Leben haben. Schließlich ist ein Baby kein autonomes Wesen, das fähig zu Entschlüssen wäre….und folglich gibt es weniger Gründe gegen die Tötung von Babys und Föten als gegen die Tötung derjenigen, die sich selbst als distinkte, in der Zeit existierende Entitäten begreifen können (S 221).

 

Wenn Rechte auf dem Spiel stehen, sollten wir uns auf der sicheren Seite irren. So hat die Ansicht einiges für sich, dass das Gesetz über Mord aus rechtlichen Gründen weiterhin unmittelbar nach der Geburt anzuwenden ist, weil diese nun einmal die einzige scharfe, deutliche und leicht verständliche Grenzlinie darstellt. Da dieses Argument aber auf der Ebene der Rechtsordnung und Gesetzgebung angesiedelt ist, ist es sehr wohl vereinbar mit der Ansicht, dass – aus rein moralischen Gründen – das Töten eines Neugeborenen mit dem Töten eines älteren Kindes oder eines Erwachsenen nicht vergleichbar ist (S 222).

Das Unrecht an sich, den entwickelten Fötus zu töten, ist nicht sonderlich verschieden von dem Unrecht an sich, das Neugeborene zu töten. Im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs setzen wir voraus, dass die am meisten Betroffenen – die potentiellen Eltern oder zumindest die potentielle Mutter – den Abbruch auch wirklich wollen. Daher kann Infantizid nur dann mit Schwangerschaftsabbruch gleichgesetzt werden, wenn die dem Kind Nahestehenden nicht wollen, dass es lebt. Da ein Säugling von anderen adoptiert werden kann, wie es bei einem noch nicht lebensfähigen Fötus nicht möglich ist, dürften solche Fälle selten sein (S 224).

 

Leben nehmen : Menschen

 

Euthanasie meint heute das Töten jener, die unheilbar krank sind und große Schmerzen oder Leiden erdulden, um ihretwillen und um ihnen weiteres Leiden oder Elend zu ersparen…Es lassen sich drei verschiedene Arten unterscheiden (S 225f) :

Freiwillige Euthanasie, d.h. die Euthanasie auf Verlangen der Person, die getötet werden will (S 226).

Unfreiwillige Euthanasie, d.h. die getötete Person ist fähig, ihrem eigenen Tod zuzustimmen, aber es nicht tut, weil sie entweder nicht gefragt wird, oder weil sie zwar gefragt wird, sich aber dafür entscheidet weiterzuleben…Jemanden ohne seine Zustimmung töten kann nur dann als Euthanasie gelten, wenn das Motiv des Tötens der Wunsch ist, der betreffenden Person Leiden zu ersparen. Echte Fälle von unfreiwilliger Euthanasie sind offenbar selten (S 230).

Nichtfreiwillige Euthanasie, d.h. wenn ein menschliches Wesen nicht fähig ist, die Entscheidung zwischen Leben und Tod zu verstehen. Diejenigen, die nicht in der Lage sind, ihre Zustimmung zu geben, sind unheilbar kranke oder schwerbehinderte Säuglinge sowie Menschen, die durch Unfall, Krankheit oder hohes Alter die Fähigkeit auf Dauer verloren haben, das Entscheidungsproblem zu verstehen, ohne dass sie zuvor Euthanasie unter diesen Umständen gefordert oder abgelehnt hätten (S 230).

 

In der nachfolgenden Erörterung werde ich voraussetzen, dass die Eltern nicht wollen, dass das behinderte Kind lebt und dass die Behinderung so schwer ist, dass – wiederum im Unterschied zu der Situation eines unerwünschten, aber normalen Kindes heute – kein anderes Paar daran interessiert ist, den Säugling zu adoptieren (S 234)…. Wenn das Leben eines Kindes so elend sein wird, dass es sich aus der inneren Perspektive des Wesen, das dieses Leben führen wird, nicht zu leben lohnt, …. und sofern keine ‚äußeren‘ Gründe vorliegen den Säugling am Leben zu erhalten – wie etwa die Gefühle der Eltern – dann ist es besser, ihm ohne weiteres Leiden zum Sterben zu verhelfen (S 236).

Ein schwierigeres Problem ergibt sich, wenn wir Schädigungen betrachten, die die Lebensaussichten des Kindes bedeutend weniger rosig erscheinen lassen als die eines normalen Kindes, aber nicht so trübe, dass sich das Leben nicht doch zu leben lohnen würde (S 236)…. Es bleibt festzuhalten, dass weder Hämophilie (=Bluterkrankheit) noch Down-Syndrom das Leben so beeinträchtigen, dass es sich aus der Innenperspektive der Person, die es führt, nicht mehr zu leben lohnte. Wer bei einem Fötus mit einem dieser Schäden einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lässt in der Absicht, ein anderes Kind zu bekommen, das nicht behindert sein wird, sieht Föten offensichtlich als austauschbar oder ersetzbar an. Wenn die Mutter sich vorher entschlossen hat, eine bestimmte Zahl von Kindern, sagen wir zwei, zu bekommen, dann weist sie im Grunde mit dem Schwangerschaftsabbruch lediglich ein potentielles Kind zugunsten eines anderen zurück. Um ihr Handeln zu verteidigen, könnte sie folgendes sagen: Der Verlust des Lebens für den nicht ausgetragenen Fötus wird aufgewogen durch den Gewinn eines besseren Lebens für das normale Kind, das nur gezeugt werden wird, wenn das behinderte Kind stirbt. Wenn der Tod vor der Geburt eintritt, gerät die Ersetzbarkeit nicht mit allgemein akzeptierten moralischen Überzeugungen in Konflikt….Doch bei der Abtreibungsdiskussion haben wir gesehen, dass die Geburt keine moralisch relevante Grenzlinie markiert. Mir ist nicht ersichtlich, wie sich die Ansicht verteidigen ließe, Föten vor der Geburt dürften ‚ersetzt‘ werden, neugeborene Säuglinge dagegen nicht  (S 240f)…..Viele Frauen würden pränatale Diagnostik und Schwangerschaftsabbruch einer Geburt mit der Möglichkeit des Infantizids vorziehen; aber wenn letztere moralisch nicht verwerflicher ist als ein Schwangerschaftsabbruch, dann sollte die Frau wohl selbst eine solche Wahl treffen dürfen (S 243).

 

Nur für Neugeborene oder noch frühere Stadien des menschlichen Lebens sollte Ersetzbarkeit als eine moralisch akzeptable Option gelten (S 241).

Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht (S 244).

 

Die Beendigung eines Lebens ohne vorherige Zustimmung kann nun aber auch im Falle derer in Erwägung gezogen werden, die einmal Personen und fähig waren, zwischen Leben und Tod zu wählen, doch jetzt, durch Unfall oder hohes Alter, diese Fähigkeit für immer verloren haben, ob sie unter diesen Umständen weiterleben wollen …. Sie sind nicht selbstbewusst, rational oder autonom, und so sind Erwägungen des Rechts auf Leben oder des Respekts vor der Autonomie hier nicht angebracht. Wenn sie überhaupt keine Erlebnisse haben und auch niemals mehr welche haben können, dann hat ihr Leben keinen Wert an sich. Ihre Lebensreise ist an ein Ende gelangt. Biologisch leben sie, aber nicht biographisch (Wem diese Feststellung zu schroff erscheint, der möge sich selbst fragen, ob es hinsichtlich der folgenden Optionen etwas zu wählen gibt: a) sofortiger Tod oder b) sofortiges Koma zehn Jahre lang, ohne Genesung bis zum Tod. Ich kann keinen Vorteil darin sehen, im Zustand des Komas zu überleben, wenn der Tod ohne Genesung gewiss ist) (S 244f).

Rechtfertigung freiwilliger Euthanasie. Ich habe argumentiert, dass die Tötung eines seiner selbst bewussten Wesens schwerer wiegt als die Tötung eines bloß bewussten Wesens. Dafür habe ich vier verschiedene Gründe aufgeführt: (1) Die klassisch-utilitaristische Behauptung, dass, weil selbstbewusste Wesen fähig sind, ihren eigenen Tod zu fürchten, ihre Tötung schlimmere Wirkung auf andere hat. (2) Die präferenz-utilitaristische Erwägung, die es als wichtigen Grund gegen das Töten erachtet, dass der Wunsch des Opfers weiterzuleben durchkreuzt wird. (3) Eine Rechtstheorie, nach der man, um ein Recht zu haben, die Fähigkeit besitzen muss, das zu wünschen, worauf man ein Recht hat, so dass man, um ein Recht auf Leben zu haben, fähig sein muss, die Fortsetzung seiner eigenen Existenz zu wünschen (4) Respektierung der autonomen Entscheidungen rational handelnder Wesen (S 248). … So sprechen in dem speziellen Fall der freiwilligen Euthanasie die meisten dieser Gründe eher für als gegen Euthanasie. Dieses Resultat mag zunächst überraschend erscheinen, doch es spiegelt nur die Tatsache wieder, dass das Besondere an einem selbstbewussten Wesen ist, dass es weiß, dass es in der Zeit existiert und weiter existieren wird, sofern es nicht stirbt. Normalerweise wird diese Fortsetzung der Existenz heiß ersehnt; wenn die absehbare Fortsetzung der Existenz allerdings eher gefürchtet als ersehnt wird, dann kann der Wunsch zu sterben an die Stelle des normalen Wunsches zu leben treten, und die Gründe gegen das Töten auf der Grundlage des Wunsches zu leben kehren sich um (S 250).

Die Richtlinien, die von den Gerichten in den Niederlanden entwickelt wurden … schlagen vor, dass Sterbehilfe nur akzeptabel ist, wenn (1) sie von einem Arzt geleistet wird (2) der Patient ausdrücklich um Sterbehilfe ersucht hat, und zwar in einer Weise, die am Wunsch des Patienten zu sterben keinen Zweifel lässt (3) die Entscheidung des Patienten nach gründlicher Information erfolgt und frei und dauerhaft ist (4) der Patient in einem unrettbaren Zustand ist, der es mit sich bringt, dass das körperliche und seelische Leiden in die Länge gezogen und damit für den Patienten unerträglich wird (5) keine vernünftige Alternative (vom Standpunkt des Patienten aus) vorhanden ist, um das Leiden des Patienten zu lindern (6) der Arzt einen unabhängigen Kollegen konsultiert hat, der seinem Urteil zustimmt (S 251).

 

Längeres Leben ist kein so hohes Gut, dass es alle andere Überlegungen aufwöge (Wenn es das wäre, gäbe es sehr viel wirksamere Arten, Leben zu retten – etwa ein Verbot des Rauchens oder von Autos die schneller als 40kmh fahren können – als das Verbot der freiwilligen Euthanasie) (S 252).

Es ist auf jeden Fall in hohem Masse paternalistisch, sterbenden Patienten zu sagen, sie seien nun unter so guter Fürsorge, dass man ihnen die Wahlmöglichkeit der Sterbehilfe nicht anzubieten brauche. Man würde den Respekt vor der individuellen Freiheit und Autonomie besser wahren, wenn die Sterbehilfe legalisiert und es dem Patienten überlassen würde, zu entscheiden, ob ihre Situation unerträglich ist. Messen nun vielleicht diese Argumente für die freiwillige Euthanasie der individuellen Freiheit und Autonomie zuviel Gewicht bei? Schließlich gestehen wir Menschen in Angelegenheiten wie etwa dem Heroinkonsum keine freie Entscheidung zu. Dies ist eine Einschränkung der Freiheit, aber nach Ansicht vieler eine Einschränkung, die aus paternalistischen Gründen gerechtfertigt werden kann. Wenn Paternalismus gerechtfertigt ist, um Leute davon abzuhalten, heroinsüchtig zu werden, warum ist dann nicht auch Paternalismus gerechtfertigt, um Menschen daran zu hindern, dass sie sich töten lassen? ..... Es kann gelegentlich richtig sein, Menschen daran zu hindern, Entscheidungen zu treffen, die offensichtlich nicht rational begründet sind und von denen wir sicher sein können, dass sie sie später bereuen werden. Das Verbot der freiwilligen Euthanasie kann allerdings nicht aus paternalistischen Gründen gerechtfertigt werden, denn die freiwillige Euthanasie  ist eine Handlung, für die es gute Gründe gibt. Die freiwillige Euthanasie findet nur dann statt, wenn nach bestem medizinischem Wissen eine Person an einem unheilbaren und schmerzhaften oder äußerst quälendem Zustand leidet. Unter diesen Umständen kann man nicht sagen, die Entscheidung, rasch sterben zu wollen, sei irrational. Die Stärke des Arguments für die freiwillige Euthanasie liegt in dieser Kombination von Respektierung der Präferenzen oder der Autonomie jener, die sich für Euthanasie entscheiden, und der klaren rationalen Basis der Entscheidung selbst (S 255f).

Aktive und passive Euthanasie. …. Es kann unter gravierenden Bedingungen(z.B. schwer missgebildete Neugeborene) der einzig humane und moralisch vertretbare Weg sein, einen Säugling sterben zu lassen. Die Frage ist nun: Wenn es richtig ist, zuzulassen, das Säuglinge sterben, warum ist es dann falsch, sie zu töten (S 262)? …. Die Antwort, die die meisten Befürworter der Unterscheidung geben, ist einfach die, dass es eine moralische Regel gegen die Tötung unschuldiger Menschen gibt, dagegen keine gegen das Sterbenlassen (S 266). … Serbenlassen – gelegentlich ‚passive‘ Euthanasie genannt – wird in bestimmten Fällen bereits als eine humane und angemessene Handlungsweise akzeptiert. Wenn es zwischen Töten und Sterbenlassen keinen moralischen Unterschied an sich gibt, dann sollte ‚aktive‘ Euthanasie ebenfalls unter bestimmten Umständen als human und angemessen akzeptiert werden (S 267) … Dass die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens auch keine schlechtere Behandlung rechtfertigt, als sie dem Mitglied einer anderen Spezies zuteil wird. Hinsichtlich der Euthanasie jedoch muss das eigens betont werden. Wir bezweifeln nicht, dass es richtig ist, ein schwerverletztes oder krankes Tier zu erschießen, wenn es Schmerzen hat und seine Chance auf Genesung gering ist. ‚Der Natur ihren Lauf zu lassen‘, ihm eine Behandlung vorzuenthalten, aber sich zu weigern, es zu töten, wäre offensichtlich unrecht. Nur unser unangebrachter Respekt vor der Lehre von der Heiligkeit des menschlichen Lebens hindert uns daran, zu erkennen, dass das, was bei einem Pferd offensichtlich unrecht ist, ebenso unrecht ist, wenn wir es mit einem behinderten Säugling zu tun haben (S 271). …. Wenn wir fähig sind zuzugeben, dass unser Ziel ein schneller und schmerzloser Tod ist, sollte nicht der Zufall bestimmen dürfen, ob dieses Ziel erreicht wird oder nicht. Haben wir uns für den Tod entschieden, dann sollten wir sichergehen, dass er auf die bestmögliche Weise eintritt (S 272).

Wie willkürlich und ungerechtfertigt die Unterscheidungen zwischen menschlich und nicht-menschlich, Fötus und Säugling, Töten und Sterbenlassen auch sein mögen, das Verbot, unschuldige Menschen zu töten, zeigt zumindest eine praktikable Grenzlinie auf. Eine Unterscheidung zu treffen zwischen einem Säugling, dessen Leben vielleicht lebenswert ist, und einem, dessen Leben es definitiv nicht ist, ist viel schwieriger (S 275).

Damit soll nicht bestritten werden, dass ein Abweichen von der traditionellen Ethik der Heiligkeit des Lebens ein sehr kleines, doch begrenztes Risiko unerwünschter Konsequenzen mit sich bringt. Gegen dieses Risiko müssen wir aber den greifbaren Schaden abwägen, der durch die traditionelle Ethik entsteht – für jene nämlich, deren Elend unnötig verlängert wird. Wir müssen auch fragen, ob die verbreitete Akzeptanz von Abtreibung und passiver Euthanasie nicht bereits Risse in der traditionellen Ethik bloßgelegt hat (S 277).

 

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Prinzipien übernehmen und nicht von ihnen abweichen. Unter diesen Prinzipien müssten diejenigen sein, die nach jahrhundertlanger Erfahrung allgemein zu den besten Folgen geführt haben. Wenngleich wir uns – auf kritischer Ebene - Umstände ausdenken können, unter denen bessere Folgen eintreten würden, wenn wir gegen eines oder mehrere dieser Prinzipien handelten, dürfte man aufs Ganze gesehen besser daran tun, ihnen treu zu bleiben ( S 127 ).

 

Klassischer Utilitarismus (Jeremy Bentham, John Stuart Mill, Henry Sidgwick). Der klassische Utilitarismus beurteilt Handlungen nach ihrer Tendenz zur Maximierung von Lust oder Glück und zur Minimierung von Leid und Schmerz.

 

Präferenz-Utilitarismus. Der Präferenz-Utilitarismus beurteilt Handlungen nach dem Grad, in dem sie mit den Präferenzen der von den Handlungen oder ihren Konsequenzen betroffenen Wesen übereinstimmt.  Nach dem Präferenz Utilitarismus ist eine Handlung, die der Präferenz irgendeines Wesen entgegensteht, ohne dass diese Präferenz durch entgegengesetzte Präferenzen ausgeglichen wird, moralisch falsch (S 128).

 

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Überblick über die Euthanasie-Problematik (aus : www.buber.de/christl/unterrichtsmaterialien

Wer darf entscheiden? Auf wem liegt die Last der Entscheidung?

  • Beim Patienten ist zu unterscheiden zwischen einem echten Todeswunsch und eine temporären seelischen Depression. Wer befindet darüber?
  • Dürfen Angehörige entscheiden, falls der Patient nicht entscheidungsfähig ist?
  • Muß/darf der Arzt sich dem Willen des Patienten oder der Angehörigen beugen? Kann er lebensverlängernde Maßnahmen verweigern (zusätzliche Operation)? Kann er Wunsch auf Nicht-Behandlung befolgen? Sollte er einem dazu nicht mehr fähigen Patienten beim Selbstmord helfen dürfen?
  • Wer legt die Grenzen der Wissenschaft fest? Wann dürfen technische Möglichkeiten nicht mehr angewandt werden?
  • Ist Sterbehilfe mit der Würde des menschlichen Lebens vereinbar? Oder umgekehrt: ist es mit der Menschenwürde vereinbar, daß ein Mensch gegen seinen Willen am Leben gehalten wird? Was ist menschenwürdiges Leben?
  • Soll man als Arzt im Sinne der Nächstenliebe handeln (dem Patienten Leiden ersparen) oder seine Ehrfurcht vor dem Leben bewahren?
  • Wie kann man für einen Arzt ein verbindliches Verfahrensschema finden, so daß er genau weiß, was er tun soll, ohne mit gerichtlichen Konsequenzen rechnen zu müssen?
  • Wenn ein Arzt in irgendeiner Form Euthanasie ausführen dürfte, wie könnte man das Vertrauen der Patienten dennoch erhalten?
  • Darf man z.B. bei mißgebildeten Kindern auch die psychologische Belastung für die Eltern in Betracht ziehen?
  • Das unbedingte Am-Leben-Erhalten von Schwerstbehinderten widerspricht den mangelnden Pflegemöglichkeiten und der sozialen Ausgrenzung von Patient und Angehörigen durch die Gesellschaft.
  • Was ist ein Mensch? Ab wann ist jemand ist jemand schon ein Mensch? Ab wann nicht mehr?
  • Wäre die Legalisierung aktiver Sterbehilfe ein erster Schritt auf dem Weg, an dessen Ende keine Ehrfurcht vor menschlichem Leben mehr besteht?

Falltypen der Euthanasie

  • Todkranke, die nur von Maschinen am Leben erhalten werden (können), deren Leiden man mindern möchte.
  • Kranke, die mit ihrer Außenwelt nicht/sehr bedingt in Kontakt treten können. (z.B. Gehirngeschädigte, hochgradig Querschnittsgelähmte)
  • mißgebildete Säuglinge

Menschenbilder - "Was ist der Mensch?"

Wie alle ethischen Fragen hängt insbesondere die Frage der Euthanasie stark vom Menschenbild eines jeden ab. Denn kaum einer zweifelt an, daß man einen Menschen nicht töten darf, doch bestehen erhebliche Differenzen, was denn nun ein Mensch sei. Ist der Mensch eine biologische Maschine oder Gottes Geschöpf? Ist eine befruchtete Eizelle bereits menschliches Leben, ist ein Gehirntoter, der an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen ist, dies noch? Was ist mit Säuglingen ohne Gehirnfunktion? Von diesem Menschenbild hängt sogar ab, wann ein Mensch tot ist, was Sterben bedeutet, aus ihm leiten sich Rechte und Pflichten von Ärzten, unserer Rechtsordnung, die Rechte der Patienten und der Angehörigen. Was sind Kriterien für den Menschen?

materialistisch-naturwissenschaftliches Menschenbild

Grundlagen:

  • Der Mensch ist wie Pflanzen und Tiere denselben Naturgesetzen unterworfen und muß unter denselben (naturwissenschaftlichen) Gesichtspunkten betrachtet werden. Besondere Privilegien müssen an bestimmten Eigenschaften festgemacht werden. Deshalb sucht man nach Kriterien, die nur dem Menschen eigen sind, dazu gehören: Rationalität ("der Mensch ist ein animal rational"), Autonomie, Selbstbewußtsein, Empfindungsfähigkeit, Gewissen, aber auch die Kommunikationsfähigkeit mit anderen (Mensch als ein Gemeinschaftswesen). Es wird also zwischen der Zugehörigkeit zur Spezies Homo Sapiens als biologische Größe und dem Menschsein als "distinkte" Qualität innerhalb der gesamten Natur differenziert.
  • Diese besondere Stellung hat der Mensch evolutionsgeschichtlich aufgrund seines Gehirnes inne. Dies läßt dem Gehirn eine außerordentliche Stellung zukommen und legt nahe, menschliches Leben nach der Gehirntätigkeit zu beurteilen (die moderne Medizin definiert den Tod als den Gehirntod). Für dieses Menschenbild ist also die Fragestellung typisch: "Wann ist jemand schon/noch ein Mensch?"
  • Dieses Menschenbild ist insofern materialistisch, da es annimmt, es kann dort nichts geben, wo materiell nichts ist, d.h. wenn kein funktionsfähiges Gehirn vorhanden ist, ist dieses Wesen auch zu keinem Bewußtsein, und damit zu keinem Menschsein, fähig. Ebenso gilt - vereinfacht gesprochen -, was nicht meßbar ist, ist nicht vorhanden. Innerhalb dieses Menschenbildes gibt es die unterschiedlichsten Färbungen.

Auswirkungen:

  • Alles, was den oben genannten Kriterien nicht entspricht, wird einem Tier gleichgesetzt und darf als solches behandelt werden (Tötung ist kein Verbrechen; keine Behandlungspflicht durch den Arzt).
  • Die Vorstellung eines Gottes und Schöpfers wird weitestgehend ignoriert oder sogar bewußt aus der Argumentation verdrängt.

materialistisch-utilitaristisches Menschenbild (Singer)

  • Dieses Menschenbild hat als geistesgeschichtliche Grundlage das naturwissenschaftliche Menschenbild, wahrt aber nicht dessen bemühte Wertneutralität und wendet eine rationalistische Betrachtungsweise rigoros an.
  • Zentral für dieses Menschen- und Weltbild ist der Grundsatz des Utilitarismus: "das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl". Der Mensch wird nach seinem sozialen Nutzwert beurteilt (ökonomisch, emotionell,...). Ein kranker Mensch ist weniger wert als ein gesunder Mensch.
  • Dieser Utilitarismus existiert in verschiedenen Abschwächungen. Allen gemeinsam ist folgender Grundsatz (für Wiederbelebungsversuche oder das Am-Leben-Lassen von mißgebildeten Säuglingen): entscheidend für den Wert eines menschlichen Lebens ist die zu erwartende Qualität menschlichen Lebens: wird in der Glücksbilanz das Glück gegenüber dem Unglück überwiegen? In seiner milden Form (nach Singer: "Vorausgesetzte Existenz") wird hier nur die Glücksbilanz des Betroffenen betrachtet, in der radikalen hingegen die Gesamtglücksbilanz seiner Umwelt.
  • Daraus folgt, daß Menschen (insbesondere Säuglinge) ersetzbar sind.
  • vgl. Entwurf zur Euthanasie von Peter Singer

darwinistisches Menschenbild

  • Das (sozial)darwinistische Menschenbild sieht den Menschen als nichts Anderes als ein Tier. Es gelten für ihn die gleichen Prinzipien wie die in Natur, also die natürliche Zuchtwahl (Selektionsprinzip) im Kampf ums Dasein. Nur die Stärksten (eigentlich: Bestangepaßten) werden überleben.
  • Dieses Menschenbild wird in reflektierter Weise heute nicht mehr vertreten, hauptsächlich angesichts des Nationalsozialismus, der seine Rassenlehre und seine "Tötung lebensunwerten Lebens" daraus ableitete. Es würde nämlich die Tötung von Kranken und Behinderten legitimieren. Doch unterschwellig finden sich Ansätze in naturwissenschaftlichen Menschenbildern, wenn davon die Rede ist, daß der Mensch (wegen seines technischen Fortschritts) an die Stelle der Natur treten muß, um die nicht mehr stattfindende Selektion selbst zu übernehmen.
  • Zur Klärung von Problemfällen wird besonders häufig auf Naturprinzipien abgehoben.

traditionelles Menschenbild

  • Das traditionelle Menschenbild wurde nie mit den heutigen Grenzfällen konfrontiert, z.B. Gehirntote, da es die moderne Apparatemedizin nicht gab.
  • Für dieses Menschenbild galt fraglos: Mensch ist, was von Menschen geboren ist. Jedes menschliche Leben ist heilig, es gibt keine Grenzen.
  • Dementsprechend ist der ärztliche Heilauftrag dahingehend zu verstehen, daß er Leben um jeden Preis verlängert.

christlich-religiöses Menschenbild

  • Das christlich-religiöse Menschenbild ist eng mit dem traditionellen Menschenbild verbunden, hat aber versucht, seine Ansichten von Gott und Jesus Christus aus zu begründen.
  • Gott hat dem Menschen das Leben geschenkt. Damit steht dem Menschen steht kein Recht zu, über Leben und Tod zu entscheiden. Jedes Leben ist gottgewollt. Und Gott kümmert sich um jeden; für einen Christen gibt es keine Hoffnungslosigkeit, deshalb kann niemand sterben wollen. Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen; und so wie Gott heilig ist, ist damit auch der Mensch heilig.

Vom Wert menschlichen Lebens

Im Zusammenhang mit der Euthanasiediskussion hört man immer wieder den Ausdruck "Tötung lebensunwerten Lebens" oder den Begriff "Minderwertige". Dies läßt den Rückschluß zu, daß die Frage nicht nur allein vom Menschenbild abhängt (s.o.), sondern auch vom Wert, den man dem Individuum beimißt, vorallem dem Kranken, Behinderten und Mißgebildeten. Natürlich ist auch die Wertung eng verknüpft mit dem Menschenbild.
Durch die nationalsozialistische Ideologie (»Herrenrasse« o.ä.) ist die Wertung menschlichen Lebens bereits entscheidend vorbelastet (vgl. Geschichte der Euthanasie)

mögliche Kriterien für den Wert eines Menschen:

  • sozialer Nutzwert
  • Intelligenz
  • physische Stärke

Bei hochgradig Querschnittsgelähmten wird z.B. häufig argumentiert, daß das Leben eines intelligenten, eher geistig orientierten Menschen, der ein solches Schicksal erleidet, menschenwürdiger ist, als das eines weniger Intelligenten, eher sportlichen Menschen. Unterbewußt wird also auch hier eine Wertung vorgenommen.

Die kirchliche Tradition und das Christentum als ganzes hat sich stets gegen eine unterschiedliche Bewertung menschlichen Lebens geweigert. Der Schritt von der Herabwertung eines Menschen zum legitimierten Verbrechen an diesem ist zu allen Zeiten nicht weit. Der Gott des Christentums war nie ein Gott der Starken, der Fehlerlosen, der Gesunden, sondern immer auch ein Gott der Kranken, der Schwachen, der Ausgestoßenen. Gerade am Handeln Jesu kann man erkennen, daß er die Herabwertung von Menschen konterkarierte.

Ab wann und wielange ist jemand ein Mensch?

Nicht nur in der Abtreibungsdiskussion (die ja - strenggenommen - auch als eine Frage der Euthanasie betrachtet werden kann) ist es von entscheidender Bedeutung, wann man noch bzw. schon von menschlichem Leben sprechen kann. Extreme reichen von der Stellung der katholischen Kirche (Möglichkeit der Entstehung menschlichen Lebens aus Sperma und Ovum), so daß selbst Verhütungsmittel verboten sind, bishin zur nationalsozialistischen Ideologie, daß bei "minderwertigen Rassen" nicht mehr von Menschen zu sprechen sei.

Aus der Notwendigkeit heraus, ein verbindliches Kriterium für den Tod zu finden, hat sich die internationale Medizin darauf geeinigt, den Hirntod als Kriterium des Todes anzuerkennen, was aber selbst unter Medizinern nicht unumstritten ist. Auch hier weiß die Medizin zuviel, um sich aus der Verantwortung zu stehlen, aber zuwenig über das Sterben, um ethisch abgesichert zu sein. Hinzu kommt sicherlich an dieser Stelle die latente Furcht vor dem eigenen Tod, nenne man sie Selbsterhaltungstrieb oder nicht. Legt man an den Menschen spezielle Kriterien an, die ihn zu einem Menschen machen, so hilft das für die Frage, ob jemand schon oder noch ein Mensch ist, nur in sofern weiter, als daß es den momentanen Zustand des Patienten charakterisiert. Säuglinge z.B. erfüllen kaum Kriterien der Autonomie und des Selbstbewußtseins. Man führte also das Hilfsmittel einer möglichen Entwicklung zur Erfüllung der Kriterien an. Wird aus dem Säugling einmal ein Wesen, das die Kriterien erfüllt. Kann der Kranke je wieder diese Bedingungen erfüllen? Heute ist es in der internationalen Medizin üblich, den Tod vom Gehirn her zu definieren. Somit handelt es sich bei einem Menschen, dessen Großhirn abgestorben ist oder nie funktionierte, kein Mensch. emgegenüber gibt es aber auch die Position, daß das Sterben ein Prozeß ist, wo es keine scharfe Trennlinie zwischen Leben und Tod gibt und wozu selbst die Verwesung des Leichnams noch zählt. Man darf dem Menschen auch in dieser Phase das Menschsein nicht absprechen und muß ihn dementsprechend behandeln.

Verantwortlichkeit des Menschen

Blickt man in die Vergangenheit zurück, so gab es nie eine Zeit, wo der Mensch so zum Herr über Leben und Tod geworden ist. Dies ist das Ergebnis des technischen Fortschritts. Und nachdem dem Menschen nun diese Möglichkeiten offenstehen, ist damit auch die Verantwortung daran gekoppelt. Man kann weder aus Angst vor den Folgen die Zeit zurückdrehen und die technischen Möglichkeiten nicht anwenden (hier müßte man sich für die unterbliebene Hilfe verantworten), noch kann man einfach behandeln um jeden Preis (hier wird die Behandlung zum Selbstzweck). Der Mensch muß verantwortlich mit den Naturgesetzen vor und mit Gott (Bonhoeffer) handeln. Und eine wesentliche Voraussetzung verantwortlichen Handelns ist die Bereitschaft, Schuld auf sich zu nehmen.

Schuldübernahme (aus Dietrich Bonhoeffer, Ethik, S. 186/87)

Es geht aus dem Gesagten hervor, daß zur Struktur verantwortlichen Handelns die Bereitschaft zur Schuldübernahme und die Freiheit gehört. Gerade weil und wenn es verantwortlich ist, weil und wenn es in ihm ganz um den anderen Menschen geht, weil und wenn es aus selbstloser Liebe zum wirklichen menschlichen Bruder hervorgeht, kann es sich der Gemeinschaft der menschlichen Schuld nicht entziehen wollen. Weil Jesus die Schuld aller Menschen auf sich nahm, darum wird jeder verantwortlich Handelnde schuldig. Wer sich in der Verantwortung der Schuld entziehen will, löst sich aus der letzten Wirklichkeit des menschlichen Daseins, löst sich aber auch aus dem erlösenden Geheimnis des sündlosen Schuldtragens Jesu Christi und hat keinen Anteil an der göttlichen Rechtfertigung, die über diesem Ereignis liegt. Er stellt seine persönliche Unschuld über die Verantwortung für die Menschen, und er ist blind für die heillosere Schuld, die er gerade damit auf sich lädt, blind auch dafür, daß sich die wirkliche Unschuld gerade darin erweist, daß sie um der anderen Menschen willen in die Gemeinschaft seiner Schuld eingeht. Daß der Sündlose als selbstlos Liebender schuldig wird, gehört durch Jesus Christus zum Wesen verantwortlichen Handelns.

Wenn Kant aus dem Prinzip der Wahrhaftigkeit heraus zu der grotesken Folgerung kommt, ich müsse auch dem in meinem Haus eingedrungenen Mörder seine Frage, ob mein Freund, den er verfolgt, sich in mein Haus geflüchtet habe, ehrlicherweise bejahen, so tritt die zum frevelhaften Übermut gesteigerte Selbstgerechtigkeit des Gewissens dem verantwortlichen Handeln in den Weg. Wenn Verantwortung die ganze, der Wirklichkeit angemessene Antwort des Menschen auf den Anspruch Gottes und der Nächsten ist, so ist hier der Teilcharakter der Antwort eines an Prinzipien gebundenen Gewissens grell beleuchtet. Die Weigerung, um meines Freundes willen am Prinzip der Wahrhaftigkeit schuldig zu werden, die Weigerung hier um meines Freundes willen kräftig zu lügen - denn jeder Versuch, diesen Tatbestand der Lüge wegzudeuteln, entspringt wieder dem gesetzlich-selbstgerechten Gewissen -, die Weigerung also, Schuld zu tragen aus Nächstenliebe, setzt mich in Widerspruch zu meiner in der Wirklichkeit begründeten Verantwortung. Es wird sich auch hier gerade im verantwortlichen Aufsichnehmen von Schuld und Unschuld eines allein an Christus gebundenen Gewissens am besten erweisen. Wer in Verantwortung Schuld auf sich nimmt - und kein Verantwortlicher kann dem entgehen -, der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie. Er tut es nicht in dem frevelnden Übermut seiner Macht, sondern in der Erkenntnis, zu dieser Freiheit - genötigt und in ihr auf Gnade angewiesen zu sein. Vor den anderen Menschen rechtfertigt den Mann der freien Verantwortung die Not, vor sich selbst spricht ihn sein Gewissen frei, aber vor Gott hofft er allein auf Gnade.

Menschenwürdiges Leben

Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde verpflichtet nicht nur Unantastbarkeit menschlichen Lebens, sondern auch zur Ermöglichung und Sicherung eines menschenwürdigen Leben. So schwer dieser Begriff zu fassen ist, so wichtig ist er für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft. Vorallem die Erfahrungen im Nationalsozialismus haben gezeigt, daß der Begriff "menschenwürdiges Leben" (bzw. "lebensunwertes Leben") sehr leicht für eigene Interessen mißbraucht werden kann. Hier werden egoistische Vorstellung in ein Kleid der Nächstenliebe gekleidet.

  • Kann es menschenwürdig sein, daß ein Körper am Leben erhalten wird, dessen Gehirn abgestorben ist, dessen Herzen und Atmung und Kreislauffunktionen nur noch durch Maschinen aufrechterhalten werden?
  • Dürfen wir überhaupt von einem "menschenunwürdigen Leben" reden? Oder können wir nicht auch das Leben des Kranken noch "menschenwürdig" gestalten? Liegt die Qualität des Lebens des Kranken dann letztlich an der Fürsorge der Gesunden?

Christliche Positionen

  • Synode der EKD vom 17.2. 1961: "Das Wort Jesu von den Geringsten seiner Brüder schließt jede Geringachtung auch der Schwächsten und Elendsten aus. Die Kirche bezeugt der Welt mit Wort und Tat die Unantastbarkeit allen menschlichen Lebens. Das Amt des Arztes ist es, zu heilen und Leben zu erhalten, aber nicht zu vernichten. Allen Werturteilen und Scheingründen der selbstherrlichen Vernunft der Menschen steht das klare Verbot Gottes entgegen: Du sollst nicht töten!"
  • Dt 30,19:
    Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen.
  • Pred 6,10:
    Was da ist, ist längst mit Namen genannt, und bestimmt ist, was ein Mensch sein wird. Darum kann er nicht hadern mit dem, der ihm zu mächtig ist.
  • Jesus Christus ging gerade auf die Schwachen und Aussätzigen zu, nahm sie in Gottes Reich auf und kehrte damit die gesamte Wertordnung eines Leistungs- und Nutzwertsdenken um. Er trat als Heiler der Kranken auf.
  • Aber: Daraus läßt sich jedoch nicht unmittelbar darauf schließen, daß unsere heutigen Grenzfälle im Geiste Jesu Christi am Leben gehalten werden müssen.
  • vgl. Entwurf zur Euthanasie von Dietrich Bonhoeffer

Rechtliche Grundlagen

Einteilung der Euthanasie

Schmerzlindernde Maßnahmen

ohne Lebensverkürzung

(straffrei) 

mit Lebensverkürzung

fahrlässige Tötung
(nicht wenn aussichtslos)
§229
Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen

sterben lassen

unterlassene Hilfeleistung§330c

auf Wunsch

(straffrei) 
Töten auf Wunsch

aktive Hilfe

Tötung auf Verlangen§216

Beihilfe zum Selbstmord

(straffrei, nicht unumstritten) 
Tötung ohne Verlangen

Totschlag

 §212

Mord

 §211

Auszug aus dem StGB

  • §211
    (1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
    (2) Mörder ist, wer
    • aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
    • heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
    • um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken einen Menschen tötet.
  • §212
    (1) Wer einen Menschen vorsätzlich tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft
    (2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.
  • §216
    (1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. (2) Der Versuch ist strafbar.
  • §229
    (1) Wer vorsätzlich einem anderen, um dessen Gesundheit zu beschädigen, Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit zu zerstören geeignet sind, wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft.
    (2) Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung verursacht worden, so ist auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren und, wenn durch die Handlung der Tod verursacht worden ist, auf Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.
  • §330c
    Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.


Die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 GG) verpflichtet (in der Bundesrepublik) zum grundsätzlichen Verbot jeglicher aktiver Sterbehilfe. Eine formelle Erlaubnis des Tötens ist mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar. Nur Beihilfe zum Selbstmord oder Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen auf Wunsch des Patienten sind möglich. In der Praxis hingegen findet das Recht vermehrt rationalistische Anwendung, d.h. in Grenzfällen tendiert man eher dazu, den Rechtsmaßstab weniger streng anzulegen.


Medizinische Grundlagen

Ärztliches Gelöbnis (hippokratischer Eid)

Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschheit zu stellen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse wahren. Ich werde mit all meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztliches Berufes aufrechterhalten und mich in meinen ärztlichen Pflichten nicht durch Religion, Nationalität, Rasse, Parteipolitik oder soziale Stellung beeinflussen lassen. Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Ich werden meinen Lehrern und Kollegen die schuldige Achtung erweisen. Dies alles verspreche ich feierlich auf meine Ehre.

Berufsordnung

(1) Der Arzt ist zum Dienst an der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Gesamtheit berufen und erfüllt damit eine durch Gesetz und diese Berufsordnung geregelte öffentliche Aufgabe. Der ärztliche Beruf ist seinem Wesen nach ein freier Beruf. Er ist kein Gewerbe. Der ärztliche Beruf verlangt, daß der Arzt seine Aufgabe nach seinem Gewissen und nach den Geboten der ärztlichen Sitte erfüllt.
(2) Aufgabe des Arztes ist es, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu mildern. Der Arzt übt seinen Beruf nach den Geboten der Menschlichkeit aus. Er darf keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit seiner Aufgabe nicht vereinbar sind oder deren Befolgung er nicht verantworten kann. [...]


Der Arzt hat seinen Beruf im Dienste der Menschlichkeit auszuüben. Er muß Ehrfurcht vor menschlichem Leben von der Empfängnis an zeigen. Oberstes Gebot seines Handelns ist der Erhalt und die Wiederherstellung menschlichen Lebens. Gleichzeitig ist er bei der Anwendung seiner ärztlichen Kunst dazu angehalten, nicht im Widerspruch zur Menschlichkeit oder zur ärztlichen Sitte zu handeln.



Wo sind die Grenzen der Möglichkeiten?

Der technische Fortschritt des letzten Jahrhunderts und die wachsenden Kenntnisse über die biologischen Zusammenhänge hat uns die Möglichkeit beschert, das Entstehen und das Ende eines Menschen zu beeinflussen. Und mit der Möglichkeit müssen wir auch die Verantwortung für ihre Anwendung und ihre Nicht-Anwendung gleichermaßen übernehmen. Durch die drastische Erhöhung der Lebenserwartung von Behinderten, Mißgebildeten und Kranken stehen wir heute vor Problemen, die in früheren Zeiten von der Natur selbst geregelt wurden. Damals hatte der Mensch keine Möglichkeit; heute hat er sie, weiß aber nicht wo die Grenzen ihrer Anwendung sind. Man kann heute den Körper eines Menschen am Leben erhalten, obgleich keine Gehirntätigkeit mehr vorhanden ist. Soll man einen Hirntumorkranken für ein paar Monate mehr Leben operieren und schwerste psychische Schäden in Kauf nehmen? Soll man einem Unfallopfer mit völliger Unbeweglichkeit der Gliedmaßen das Leben mit künstlicher Beatmung verlängern? Soll man Kinder ohne menschlich-geistige Regung und ohne Möglichkeit zu deren Entwicklug am Leben erhalten? Gehört die künstliche Verlängerung eines Sterbevorgangs noch zum ärztlichen Heilauftrag?

Beschränktheit der Kapazitäten

Das oben erwähnte Problem gewinnt noch an Brisanz, wenn es nicht nur um die Frage geht, in einem speziellen Einzelfall die zur Verfügung stehende Technik einzusetzen oder nicht, sondern man von den begrenzten Kapazitäten (Personal; Apparate) eines Krankenhauses ausgehen muß. Dann gibt es keine andere Möglichkeit als einen Menschen auf Kosten eines anderen zu versorgen, d.h. zu entscheiden, wer lebt und wer sterben muß. In einer solchen Situation muß es dem Arzt freistehen, über das Leben von Patienten zu entscheiden.

Diagnose und Prognose

Selbst wenn nach schwieriger Abwägung ethischer Grundprobleme eine Lösung gefunden worden ist, so bleibt doch noch dann ein letzter Rest an Unsicherheit: die medizinische Diagnostik bzw. Prognostik. Fälle, in denen Totgeglaubte oder sog. "hoffnungslose Fälle" wider Erwarten gesund wurden, zeigen, daß es selbst bei größtmöglicher Sorgfalt keine letzte Gewißheit geben kann.

Vertrauensverhältnis Arzt-Patient

Eine erfolgreiche Behandlung hat zur Voraussetzung ein intaktes Vertrauensverhältnis zwischen dem Patienten und dem behandelnden Arzt. Dieses Vertrauensverhältnis gewinnt umso mehr an Gewicht, wenn der Patient machtlos seiner Krankheit ausgeliefert ist und der Arzt über Leben und Tod des Patienten entscheidet. Eine teilweise legalisierte Euthanasie könnte Ängste schüren, die dieses Verhältnis empfindlich beeinträchtigen.

Umgekehrt: Die latente Angst vor Krankenhäusern und Ärzten wird dadurch nicht abgebaut, sondern eher noch bestärkt, indem man den Patienten das für viele beängstigende Dahinvegetieren im eigenen Leid nicht erspart (nicht ersparen will/kann/darf). Das Am-Leben-Erhalten um jeden Preis bewirkt auch einen Vertrauensverlust, nämlich hinsichtlich der Leidminderung, wenn man einen schnellen Tod dem langsamen Sterben vorzieht.


In der Euthanasie-Frage ist die Rolle des Arztes besonders problematisch. Er ist unmittelbar mit dem Leid der Patienten konfrontiert, an ihn werden eventuelle Tötungswüsche von Patienten und Angehörigen herangetragen. Ihm stehen die technischen Möglichkeiten zur Verfügung, Menschen am Leben zu erhalten, und ihm obliegt es im Einzelfall, wie er seine begrenzten Kapazitäten verantwortungsvoll einsetzt und wo er besser darauf verzichtet. Heute ist technisch mehr möglich, als dem ethischen Gewissen unbedenklich erscheint. Er ist an seinen ärztlichen Heilauftrag und das gültige Recht gebunden, das en détail jede Leidverminderung für Kranke zu einem Balanceakt macht. Zusätzlich hat auch sein Vertrauensverhältnis zu den Patienten an sich seine Bedeutung; er darf nichts tun, was dieses unbedingt notwendige Vertrauen zerstört.



Rolle des Individuums

Selbstbestimmungsrecht des Menschen

Gibt es so etwas wie ein Selbstbestimmungsrecht des Menschen? In einer Welt, wo menschliche Autonomie, Eigenverantwortung und Individualismus zu unverzichtbaren Tugenden werden, scheint es auch fast selbstverständlich, daß man über den eigenen Tod entscheiden will. So verständlich dieser Wunsch ist, so schwierig ist er auch durchzuführen. Denn wo sind Kriterien dafür? Würde man jedem Menschen das Recht auf Tod einräumen, dürfte man keinen Selbstmörder mehr davon abhalten, sich umzubringen. Verminderte Zurechnungsfähigkeit würde hier das Argument sein. Aber wer stellt fest, ob es sich um Depressionen handelt, um Kurzschlußreaktionen, um Flucht, um den sog. philosophischen Selbstmord oder schließlich um diesen Wunsch, endlich sterben zu dürfen, ohne von Ärzten und Apparaten daran gehindert zu werden?

  • Selbstmordgedanken von depressiven Menschen darf man nicht hinsichtlich eines Wunsches nach Sterbehilfe interpretieren.
  • Wer sollte einen Wunsch nach Sterbehilfe von einer vorübergehenden Depression unterscheiden? Wo verzehrt das soziale Umfeld mehr den Lebenswillen als die Krankheit oder Behinderung selbst?
  • Gibt es das vielfach postulierte Recht auf Sterben? Sollte dem Individuum die Verfügungsgewalt über den eigenen Tod eingeräumt werden?
  • Darf man das Recht auf Sterben einem Patienten verweigern? Darf man das eigene Menschenbild jemandem aufzwingen?Muß man als ein mitfühlender Mensch bei der Verwirklichung des Wunsches nach Sterben helfen, ihn vielleicht sogar ausführen, wenn der Patient zu schwach ist? Darf man oder muß man sich verweigern?
  • Als Vorsorgemaßnahme kann man beim Notar eine Erklärung hinterlegen, in der man bestimmt, ob man in derartigen Grenzfällen ein Weiterbehandlung wünscht oder diese ablehnt. Dabei wäre die geistige Zurechnungsfähigkeit gewährleistet.

Situation der Kranken

Bei allen Bemühungen, den abstrakt-ethischen Grundfragen nachzugehen, darf die konkrete Situation des Kranken5 nicht vergessen werden. Er kümmert sich häufig recht wenig um weltanschauliche Rechtfertigungen seines Leidens - oder will sogar aus eigener Überzeugung endlich sterben (s.o.). Wenn man das sehr reale Leid des Todkranken sieht und ihm die sachlich-überlegte Euthanasiediskussion gegenüberstellt, so muß man darin einen Zynismus spüren. Alle, die gegen jegliche Form der Euthanasie sind, müssen sich dem stellen. Einzig Konzepte der christlichen Sterbehilfe liefern bislang glaubwürdige Ansätze.

Der Patient fühlt sich häufig genug einer anonymen, technisierten Welt ausgeliefert, die ihn gerade in diesem Moment der Schwäche überwältigt. Er empfindet Schmerzen und Ängste, von denen die Apparate, oft auch Schwestern und Ärzte nichts wissen, nichts verstehen.

Oder nehmen wir den hochgradig Querschnittsgelähmten, der gerade noch die Augen richtig bewegen kann, der sich verständlich machen will, es aber nicht kann und in einer niederdrückenden Ohnmacht leben muß. Was geht in den Köpfen solcher Menschen vor, welches Leid müssen sie ertragen? Wieviel Schwerstbehinderte kommen einfach nicht damit klar, daß sie auf immer auf fremde Hilfe angewiesen sind. Stellt dieses Zur-Last-Fallen nicht noch eine zusätzliche seelische Qual dar? Schmerzen haben nicht nur physische Ursachen, viele von ihnen werden in der Seele geboren. Auch darauf muß Rücksicht genommen werden. Und letztendlich ist es ja auch die Psyche, die den Wunsch nach Sterbehilfe gebiert.

Das soziale Umfeld

Rolle der Angehörigen

Die Rolle der Angehörigen ist in der Euthanasiefrage vielgestaltig und vielschichtig. Will man sie in die Entscheidung miteinbeziehen, muß man zur Kenntnis nehmen, daß hier die unterschiedlichsten Motivationen hineinspielen.

  • Richtig ist, daß ein Kranker - und noch viel mehr ein behindertes Kind - eine beträchtliche emotionelle wie auch finanzielle Last darstellt. Viele Schwerstkranke werden von Angehörigen gepflegt, tagein, tagaus. Dieses Engagement führt zu einer sozialen Isolation (keine Zeit zum Pflegen von Beziehungen) und zu einer sozialen Isolierung (Behinderte sind in unserer Gesellschaft alles andere als Prestigeobjekte). Soll man solchen Menschen, die sich in voller Hingabe um die Kranken kümmern, das Recht absprechen, in einem hoffnungslosen Fall, wenn ihre eigene Kraft aufgezehrt ist und noch mehr Opfer keinen Sinn machen, in der Frage der Lebensverkürzung kein Mitspracherecht einräumen?
  • Leider ist es auch so, daß eine große Zahl von Angehörigen mehr von Besitzgier als von Nächstenliebe getrieben wird. Hinter dem Wunsch nach Euthanasie steckt dann der Wunsch nach baldigem Erbe. P

Pflegemöglichkeiten

Vorallem angesichts des Pflegenotstandes in der Bundesrepublik und der explodierenden Kosten im Pflegewesen muß man sich den Vorwurf gefallen lassen, daß man sich solche Pflegefälle nicht unbedingt durch extensive und intensive Behandlung selber schafft. Weiterhin führen mangelnde Anstaltsplätze für geistig behinderte Kinder dazu, daß Eltern die gesamte Last der Pflege tragen müssen. Darf man Eltern das zumuten?

mobbing-Effekt

Das Verhältnis zu Kranken und vorallem Behinderten und Mißgebildeten ist nicht von vorneherein unverkrampft. Was im Verlauf der Evolutionsgeschichte dazu diente, kranke Tiere aus der Gruppe auszuschließen, damit gesunde Tiere überleben und krankes Erbmaterial sich nicht weiter fortpflanzt, das prägt auch heute noch - zumindest instinktiv - unsere Einstellung gegenüber Mißgebildeten und Geisteskranken. Der gesunde Mensch verspürt eine Abneigung gegenüber Kranken, und aus dieser bloßen Abneigung wird in gruppendynamischen Prozessen schnell die Ausgrenzung. Dies ist z.B. schon daran zu sehen, daß Behindertenkliniken meistens ziemlich abgelegen gebaut werden und oft sogar Bürgerproteste sich gegen solche Einrichtungen formieren. Der Nationalsozialismus nutzte dies propagandistisch aus, so daß schließlich das entstand, was unter dem Namen "Tötung lebensunwerten Lebens" bekannt ist. Dieser Effekt ist übrigens in allen Bereichen wiederzufinden, wo Menschen sind, die von dem Normalbild äußerlich abweichen, z.B. durch eine andere Hautfarbe o.ä.).
Diese instinktive Ablehnung von Behinderten darf man nicht verdrängen, sondern man muß sie sich im Gegenteil ins Bewußtsein rufen, sie in die Relativierung der eigenen Gefühlswelt miteinbeziehen, um vernünftig damit umzugehen. Wer aus diesen Instinkten heraus jedoch eine Rechtfertigung für die Euthanasie ableiten will, der muß sich die Frage gefallen lassen, ob er den Menschen nur als ein instinktgelenktes Tier versteht.

Christliche Sterbehilfe

Unter Christen ist es weitestgehend unbestritten, daß aktive Sterbehilfe oder zumeist auch Beihilfe zum Selbstmord außer Frage stehen. Aber gerade wenn man die Liebe Gottes leben will, kann man das Leid von Sterbenden nicht ignorieren. Kann der christliche Glaube Alternativen bieten, einen neuen Weg weisen?

  • Der Hilfeschrei nach Euthanasie erschallt besonders laut, weil in unserer modernen Welt das langsame Sterben zu etwas Grausamen geworden ist. Auch mit aller - unbedingt notwendigen - Technik ist im Sterben das Wichtigste die menschliche Nähe, kleine Liebesbeweise, die Geborgenheit statt Verlorenheit vermitteln. Wo dies möglich ist, ist auch ein Sterben zu Hause in vertrauter Umgebung zu empfehlen, wo der Sterbende Liebe empfangen kann. In einer solchen Umgebung ist es viel leichter, Schmerzen zu ertragen.
  • Wer im Sinne der christlichen Botschaft einem Sterbenden beistehen will, der muß das Amt des Trostes übernehmen (vgl. 2 Kor 1,3+4: "Gelobt sei Gott [...], der uns tröstet in all unserer Trübsal, damit wir auch trösten können, die in allerlei Trübsal sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden."). Dieses Amt muß über das bloße Zuhören (das natürlich auch dazu gehört!) hinausgehen. In den schweren Stunden muß man sich für den Sterbenden zum Sprachrohr für das Wort Gottes machen, das alles überdauert, auch den bevorstehenden Tod (vgl. Mk 13,31: "Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen."). Dafür ist ein gewisses Feingefühl nötig, den richtigen Moment abzuwarten (vgl. Jes 50,4: "»Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, [...] daß ich wisse, mit den Müden zur rechten Zeit zu reden.").
  • Die Hauptaufgabe besteht darin, Hoffnung zu vermitteln, wie sie z.B. in Psalm 23 zum Ausdruck kommt , ganz im Sinne von 1 Thes 4,13-18:
  • Wir wollen euch aber, liebe Brüder, nicht im Ungewissen lassen über die, die entschlafen sind, damit ihr nicht traurig seid, wie die anderen, die keine Hoffnung haben. Denn wenn wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die entschlafen sind, durch Jesus mit ihm einherführen. Denn das sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, daß wir, die wir leben und übrigbleiben, bis zur Ankunft des Herrn, denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind. Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaunen Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen. Danach werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen, und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit. So tröstet euch mit diesen Worten untereinander.

  • Ein wichtiger Aspekt dabei ist auch die aktive Seelsorge; der Sterbende muß die Last der Schuld von sich genommen bekommen und ihn der Vergebung zuführen (Luther: »Wo Vergebung der Sünde ist, da ist auch Leben und Seligkeit.«), so daß nichts zwischen dem Sterbenden und dem ewigen Leben steht, das ihn erwartet.
  • Neben dieser konkreten Sterbehilfe am Sterbenden, kann es für den einzelnen nie zu früh sein, sich über den eigenen Tod Gedanken zu machen. Wenn man damit konfrontiert wird, darf man es nicht verdrängen, sondern muß Position beziehen. Man muß sich der Frage stellen: Was ist mein Leben vom Tode und der Ewigkeit her gedacht? Um die Angst vor dem Sterben zu überwinden, ist neben der Hoffnung auf die Ewigkeit auch wichtig, das Loslassenkönnen von der Welt zu erlernen. Man muß soviel Vetrauen auf Gott besitzen, daß man ihm das eigene Leben in die Hände legt. (vgl. Psalm 118).

Geschichte der Euthanasie

Sozialdarwinismus und Eugenik

Darwins Veröffentlichung der Evolutionstheorie etablierte biologische Grundprinzipien des Lebens - natürliche Zuchtwahl (Selektion) im Kampf um das Dasein -, die schon bald auch auf die menschliche Gesellschaft übertragen wurden. Sie trafen den Zeitgeist, der von Kolonialisierung (Unterwerfung primitiver Völker) und Industrielle Revolution (Kampf um das nackte Überleben des Proletariats; Klassengesellschaft; Fortschrittsoptimismus) geprägt war. So entstand die Bewegung des Sozialdarwinismus, deren Ideen aber erst im Elend und angesichts der Zukunftsangst nach dem I. Weltkrieg Fuß fassen konnte. Namhafte Ärzte, Juristen und auch Theologen traten hervor und äußerten Gedanken über die "Vernichtung lebensunwerten Lebens". Dies verhalf der Erbgesundheitsbewegung (Eugenik) zum Durchbruch. Kranke und Behinderte wurden als Bedrohung für die Volksgesundheit angesehen und darwinistische Argumente aus der Natur angeführt sowie auf andere, nicht-christliche Kulturen verwiesen. Diese Weltanschauung war zu dieser Zeit nichts spezifisch Nationalsozialistisches, sondern sie entsprach der Stimmung in der Bevölkerung, dem Konsens, daß man in Kranken und Behinderten "Minderwertige" sah.

Euthanasie im Dritten Reich

Die Euthanasie war vermutlich von Anfang an eingeplant. Kurz nach der Machtergreifung wurden die Pflegesätze für psychiatrische Anstalten drastisch gekürzt, was die ohnehin schlechte Situation der Kranken noch verschlimmerte. 1938 gingen mehrere Gesuche für den Gnadentod für Kinder ein, was zur Bildung eines dafür zuständigen Reichsausschusses führte. Hitler wollte wegen der möglichen Reaktion des Auslands kein Euthanasiegesetz erlassen, ordnete aber in einer kurzen Euthanasieermächtigung (die selbst unter NS-Richtern nicht unumstritten war) die Tötung an. Schon Anfang 1939 gingen die ersten Meldeformulare für mißgestaltete Kinder an Kliniken in Süddeutschland, im August wurde die Meldepflicht eingeführt. Vielen Ärzten war bekannt, daß die Angaben auf dem Fragebogen für eine Verlegung ausschlaggebend waren. Derweil dehnte der Reichsausschuß, der auf Meldung (und in Abwesenheit der Betroffenen) über Leben und Tod entschied, die "Aktion Gnadentod" auf Erwachsene aus. Für die Durchführung wurden gesinnungstreue Ärzte eingestellt. Die ersten Tötungen fanden in Westpreußen, Pommern und Polen statt. Die Eltern wußten von den Tötungsplänen nichts; ihnen wurde eine Verlegung wegen einer neuen Behandlung vorgetäuscht und dann eine fingierte Todesursache mitgeteilt. Diese Euthanasiewelle traf nicht nur staatliche Anstalten, sondern - selbst nach Bekanntwerden - auch kirchliche Einrichtungen. 1941 wurde auf Druck der Bevölkerung ein Euthanasiestopp proklamiert, der Wirklichkeit nur eine bessere Tarnung der Aktion bedeutete. Vielmehr wurden die Methoden und auch die Organisationsstrukturen der "Aktion Gnadentod" auf gesunde politische Häftlinge oder "minderwertige Rassen" (Polen, Juden) ausgedehnt. Im Rahmen der Euthanasie wurden rund 75.000 Menschen ermordet - erschossen, vergast, vergiftet oder sogar ausgehungert. Rolle der Kirchen Mitarbeit bei den Formalien Zustimmung zur Tötung bei gravierenden Fällen von Behinderung Hilfsdienste bei der Erfassung, beim Transport und bei Zwischenaufenthalten von Kranken Proteste lediglich einzelner Pfarrer und Bischöfe keine grundsätzliche Ablehnung des gesamten Programmes

Gründe für diese Haltung

  • Angst vor Repressionen des Staates
  • Kirche hat die propagandistische Anknüpfung an den mobbing-Effekt nicht durchschaut
  • jahrhundertelange Zusammenarbeit von Kirche und Staat (insbesondere evangelische Landeskirchen)
  • Furcht, von dem völkischen Aufbruch abgehängt zu werden, wenn man nicht mitschwimmt
  • fehlendes einheitliches christliches Menschenbild der Kirchen in der Euthanasiefrage verhinderte gemeinsames Handeln


Sozialdarwinismus und Eugenik waren Wegbereiter der »Euthanasie« im Dritten Reich. Es lag mit im Zeitgeist begründet, daß man im Individuum fast nur noch den Wert für die Gemeinschaft sah. In dieser Sichtweise waren Kranke und Behinderte »Minderwertige«. Die Psychodynamik des mobbing Effektes bewirkte anfänglich eine breite Zustimmung zur »Tötung lebensunwerten Lebens«. Auch die beiden Kirchen leisteten der nationalsozialistischen Euthanasie-Aktion kaum Widerstand, der zwischen 1938 und 1945 insgesamt 75,000 Menschen zum Opfer fielen und die organisatorisch nur ein Vorspiel für die Massenvernichtung von Juden war.



Anhang - Konkrete ethische Entwürfe zur Euthanasie

Peter Singer, Praktische Ethik

Die Zugehörigkeit zur Spezies Homo Sapiens hat keine moralischer Qualität. Für den Menschen bestimmend sind Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und Selbstbewußtsein; der Mensch ist nur vollwertig als eine "distinkte Entität, die in der Zeit existieren kann", die bloße Möglichkeit dazu reicht nicht aus. Daraus folgt, daß Säuglinge keine vollwertigen Menschen sind, die somit a priori kein Recht auf Leben besitzen und an den gleichen Maßstäben wie empfindendes, jedoch nicht selbstbewußtes nicht-menschliches Leben zu messen sind. Der Maßstab eines solchen Lebens ist die zu erwartende Qualität von Leben.
Sind die Schädigungen gravierend, so ist das Glück der Eltern ausschlaggebend. Würde die Tötung die Gefühle der Eltern verletzen oder würde das Leben des Säuglings das Glück der Eltern bedrohen?
In minderschweren Fällen gibt es nach utilitaristischen Prinzipien zwei Verfahrensweisen:

  • Vorausgesetzte-Existenz: Hier wird die Existenz als gegebene Tatsache angenommen. Man wägt nun ab, ob in der zu erwartenden Glücksbilanz seines Lebens das Glück gegenüber dem Unglück überwiegt. Nur bei einer positiven Glücksbilanz wäre das Töten gegen ärztliche Ethik.
  • Totaler Utilitarismus: Hier werden Säuglingen grundsätzlich als ersetzlich betrachtet. Man betrachtet die Gesamtglücksbilanz: Würde der Säugling die Welt um Glück berauben, das ein eventuell gesundes Kind bringen würde, das nun aber des kranken Kindes wegen nicht geboren wird? Andererseits wäre das zu erwartende Unglück (Schuldgefühle) der Eltern ein Grund gegen die Euthanasie.

Für Singer ist unbestritten, daß man Föten im Mutterleib für ersetzbar hält, somit ist die momentane Moral eine Frage des Zeitpunktes, was nicht sein darf.

Peter Singers Menschenbild ist utilitaristisch-materialistisch. Um ein Mensch zu sein, muß man bestimmte Eigenschaften aufweisen, die alle auf eine naturwissenschaftlich-rationalistische Herkunft schließen lassen.
Als Rückfragen an Singer wären zu richten: Wie kann man diese Eigenschaften denn messen? Sind denn nicht bereits Säuglinge unersetzliche, unverwechselbare Menschen? Was wäre das für eine Welt, in der diese utilitaristischen Prinzipien nicht nur in diesem sehr konkreten Fall der Euthanasie bei Säuglingen gelten würden? Und wie ist das mit der Glücksbilanz: kann man Glück messen, oder noch viel mehr, kann man Glück prognostizieren?


Dietrich Bonhoeffer, Ethik

In der Frage der Euthanasie ist nur ein einziger, zwingender Grund für die Tötung gültig - und nicht eine Summe von Gründen -, denn das Leben besitzt ein unvergleichliches Vorrecht gegenüber dem Tod. Für die Tötung gibt es grundsätzlich nur zwei Motivationen:

(1) Rücksicht auf die Leidenden.
Der Wunsch nach Sterbehilfe muß hier vom Betroffenen ausgesprochen werden, da man die Lebensbejahung nicht messen kann. Die Depressionen eines Kranken darf man nicht als Wunsch nach Sterbehilfe interpretieren. Bei einem geistig von zurechnungsfähign Menschen wird die Bitte um Sterbehilfe zu einem Problem des Selbstmordes und der Beihilfe dazu. Wenn man berücksichtigt, daß ein wesentlicher Unterschied zwischen Sterbenlassen und Tötung besteht, so gibt es keinen zwingenden Grund für das Töten in Rücksichtnahme auf den Kranken.

(2) Rücksicht auf die Gesunden.
Diese Motivation schließt die Wertung eines Menschen nach seinem sozialen Nutzen ein und auch die Bewertung seines Lebensrechtes. Vergessen dabei wird, daß es sich dabei um unschuldiges Leben handelt, das von Gott geschaffen ist und damit a priori wertvoll (durch Gott wertgehalten) ist. Das Urteil der Gesellschaft über einen solchen Wert wäre willkürlich und höchst gefährlich. Erbkranken stellen kein Problem dar, das nur durch Tötung zu bewältigen wäre; es gibt genügend, höchst eigennützige Beweggründe, die Kosten und Dienste der Pflege auf Seiten der Gesunden auf sich zu nehmen. Es steht außer Frage: Mensch ist, was von Menschen geboren ist, und die Tötung kranken Lebens iist der falsche Weg, Krankheiten zu bekämpfen und die Gesundheit zu verabsolutieren.
Nach Bonhoeffer gibt es also keinen zwingenden Grund für die Euthanasie, denn "Den Unschuldigen sollst du nicht erwürgen." (Ex 23,7).




 

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© Andreas Schmidt 1997
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